Tarifvorbehalt: Wo Betriebsverein­barungen Grenzen gesetzt sind

Der Tarifvorbehalt bestimmt, dass Tarifverträge grundsätzlich Vorrang vor Betriebsvereinbarungen haben. Ganz so einfach ist die Rechtslage allerdings nicht. Wir erklären, wo Betriebsräte trotz Tarifvorbehalts mitbestimmen dürfen.

1. Was ist der Tarifvorbehalt?

Tarifverträge sollen gute Arbeitsbedingungen und eine faire Bezahlung sicherstellen.
Daneben existieren jedoch auch Betriebsvereinbarungen, die ebenfalls die Arbeitsbedingungen im Unternehmen konkretisieren. Die Folge ist häufig eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Vereinbarungen und Regelungen.

An dieser Stelle soll der Grundsatz des Tarifvorbehalts Unklarheiten und widersprüchlichen Regelungen vorbeugen. Geregelt ist der Tarifvorbehalt in § 77 Abs. 3 BetrVG und § 87 BetrVG.

Hiernach haben Tarifverträge grundsätzlich Vorrang vor Betriebsvereinbarungen. Einfach gesagt dürfen zu Arbeitsentgelt und sonstigen Arbeitsbedingungen keine vom Tarifvertrag abweichende Betriebsvereinbarungen getroffen werden – weder zugunsten noch zulasten von Beschäftigten.

Andernfalls sperrt der Tarifvertrag die Betriebsvereinbarung.

Übrigens: Durch den Tarifvorbehalt aus § 87 Abs. 3 BetrVG soll in erster Linie die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft attraktiv bleiben. Der Gesetzgeber befürchtet, dass sonst Arbeitgeber und Betriebsrat ebenso attraktive Arbeitsbedingungen schaffen („kostenlose Ersatzgewerkschaft“) oder die Errungenschaften von Tarifverhandlungen im Betrieb zunichtemachen könnten.

2. Wann sperrt der Tarifvorbehalt eine Betriebsvereinbarung?

Tarifverträge gehen Betriebsvereinbarungen in diesen Fällen vor:

Allgemeiner Tarifvorbehalt gem. § 77 Abs. 3 BetrVG

Wie erwähnt regelt § 77 Abs. 3 BetrVG den Vorrang des Tarifvertrags für das Arbeitsentgelt und sonstige Arbeitsbedingungen:

  • Mit Arbeitsentgelt sind neben dem Lohn auch Gratifikationen und Prämien gemeint.
  • Von sonstigen Arbeitsbedingungen sind alle Regelungen und Vereinbarungen umfasst, die Gegenstand eines Tarifvertrages sein können, z.B. Arbeitszeit, Arbeitsbeginn und -ende, Kündigungsfristen oder Urlaubsdauer.
Beispiel: In einem Tarifvertrag ist ein Anspruch auf Urlaub von 30 Tagen geregelt. In einer Betriebsvereinbarung können daher weder mehr noch weniger Urlaubstage vereinbart werden.

Die Sperrwirkung tritt auch ohne eine tarifvertragliche Regelung ein, wenn die Angelegenheit üblicherweise durch Tarifvertrag geregelt wird. Man spricht von einer Tarifüblichkeit. Diese ist z.B. anzunehmen, wenn

  • Tarifverhandlungen geführt werden oder
  • schon einmal in der Vergangenheit eine Tarifvereinbarung zu diesem Aspekt bestanden hat.

Tarifvorbehalt für Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten

Neben dem allgemeinen Tarifvorbehalt sieht auch § 87 BetrVG vor, dass Tarifverträge den Betriebsvereinbarungen vorgehen. Damit kann der Betriebsrat auch nicht über die Angelegenheiten des § 87 BetrVG mitbestimmen, wenn dazu bereits ein Tarifvertrag eine Regelung trifft.

Beispiel: Ein Tarifvertrag sieht vor, dass ein 13. Monatsgehalt gezahlt wird. Der Betriebsrat kann dies grundsätzlich nicht über sein Mitbestimmungsrecht über die Lohngestaltung verhindern.
Wichtiger Unterschied zwischen beiden Arten des Tarifvorbehalts: Auf dem Gebiet der erzwingbaren Mitbestimmung gem. § 87 BetrVG sind Betriebsvereinbarungen nur gesperrt, wenn tatsächlich ein Tarifvertrag gilt. Reine Tarifüblichkeit reicht nicht aus. Betriebsvereinbarungen über Angelegenheiten, die in der Vergangenheit einmal per Tarifvertrag geregelt wurden, sind hier also möglich.

3. Was gilt, wenn trotzdem eine Betriebsvereinbarung getroffen wurde?

Betriebsvereinbarungen sind grundsätzlich insgesamt nichtig, wenn sie gegen den Tarifvorbehalt verstoßen.

Stellt hingegen der Rest der Betriebsvereinbarung nach Streichung der unwirksamen Absätze noch eine abgeschlossene und sinnvolle Regelung dar, kann der übrige Teil wirksam sein. Die Betriebsvereinbarung bleibt dann teilweise bestehen.

Beispiel: Eine Betriebsvereinbarung bestimmt neben bestimmten Kriterien für die zeitliche Lage des Urlaubs auch, dass nicht mehr als der gesetzliche Mindesturlaub gewährt wird. Sieht ein Tarifvertrag mehr Urlaubstage vor, kann der Teil zur zeitlichen Lage des Urlaubs grundsätzlich wirksam bleiben.

Wurde eine Betriebsvereinbarung getroffen und tritt erst danach der Tarifvertrag in Kraft, verliert die Betriebsvereinbarung ihre Gültigkeit.

4. Wann ist trotz Tarifvertrag eine Betriebsvereinbarung möglich?

Aus dem Tarifvorbehalt folgt zwar ein umfassender Vorrang des Tarifvertrags gegenüber Betriebsvereinbarungen, doch es gibt Ausnahmen:

Tarifliche Öffnungsklausel

Sogenannte tarifliche Öffnungsklauseln sehen vor, dass unter Umständen ergänzende Betriebsvereinbarungen getroffen werden können. In diesen Fällen dürfen Abweichungen vom Tarifvertrag vereinbart werden, wenn sie zugunsten der Arbeitnehmer gelten. Abweichungen zulasten der Arbeitnehmer sind nur zulässig, wenn die Öffnungsklausel dies ausdrücklich bestimmt.

Beispiel: Öffnungsklauseln sind häufig gekennzeichnet durch Formulierungen wie „Arbeitgeber und Betriebsrat können vereinbaren, dass…“ oder „durch Betriebsvereinbarungen können…“.

Sozialplan

Ein Sozialplan im Zusammenhang mit einem Stellenabbau wird nicht von der Sperrwirkung des Tarifvertrags erfasst. Ob dies auch für freiwillig abgeschlossene Sozialpläne z.B. in kleinen Betrieben gilt, ist umstritten. Vieles spricht dafür.

Nicht abschließende Regelungen (insbes. Zulagen)

Der Tarifvorbehalt greift nur, wenn die Angelegenheit (zumindest üblicherweise) von einem Tarifvertrag abschließend geregelt wird. Das ist per Auslegung zu ermitteln und sollte Experten überlassen werden. Im Kern kommt es darauf an, ob der Tarifvertrag nur einzelne von vielen Aspekten regeln oder neben seinen keine weiteren Bestimmungen zulassen möchte.

Beispiel: Dies führt insbesondere dazu, dass Lohnzuschläge aufgrund von Betriebsvereinbarungen häufig neben tariflichen Lohnregelungen möglich sind. Voraussetzung dafür ist u.a., dass der betriebliche Lohnzuschlag von anderen Voraussetzungen als die tarifliche Vergütung abhängt.

5. Checkliste Tarifvorrang

Vor Abschluss einer Betriebsvereinbarung sollten bestimmte Fragen von einem spezialisierten Rechtsanwalt geklärt werden. Andernfalls ist schnell die Wirksamkeit der Vereinbarung gefährdet.

Einen ersten Überblick soll diese Checkliste geben:

  1. Gibt es einen Tarifvertrag, der Regelungen für die Angelegenheit vorgibt?
    Zunächst kommt es darauf an, ob ein bestehender Tarifvertrag die Angelegenheit bereits regelt. Dieser muss auf den Betrieb anwendbar sein. Was für Betriebsvereinbarungen gegenüber Arbeitnehmern gilt, die nicht der Tarifbindung unterliegen, ist umstritten und im Einzelfall zu klären.
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  3. Wenn kein Tarifvertrag: Tarifüblichkeit?
    Auch ohne Tarifvertrag muss geklärt werden, ob die Angelegenheit üblicherweise tarifvertraglich geregelt wird. Wenn ja, scheidet eine Betriebsvereinbarung grundsätzlich aus.
     

    Achtung: Betrifft die Angelegenheit ein Mitbestimmungsrecht aus § 87 BetrVG, gehen nur tatsächlich bestehende Tarifverträge vor. Bloß tarifübliche Regelungen entfalten keine Sperrwirkung.
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  5. Abschließende Regelung?
    Ist die tarifvertragliche Regelung abschließend oder lässt sie Raum für erweiternde Regelungen durch eine Betriebsvereinbarung? Gerade zusätzliche Lohnzuschüsse sind oft neben einer einschlägigen Tarifvereinbarung möglich.
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  7. Öffnungsklauseln?
    Enthält der Tarifvertrag eine sog. Öffnungsklausel, sind insoweit Abweichungen und Ergänzungen möglich. Erzwingbare Sozialpläne sind immer neben einem Tarifvertrag möglich.

6. Fazit

  • Der Tarifvorbehalt regelt, dass Tarifverträge gegenüber Betriebsvereinbarungen grundsätzlich vorrangig sind.
  • Die Sperrwirkung besteht häufig auch dann, wenn über die Angelegenheit keine tarifvertragliche Regelung besteht, sie üblicherweise aber in einem Tarifvertrag geregelt wird.
  • Wurde trotz Tarifüblichkeit oder Tarifvertrag eine Betriebsvereinbarung getroffen, ist diese grundsätzlich nichtig.
    Tarifliche Öffnungsklauseln lassen trotz Tarifvertrag eine Betriebsvereinbarung zu.
  • Sozialpläne gehen Tarifverträgen grundsätzlich vor.